Der Tag des Abschieds rückte näher. Stella sollte die Reise als erste antreten, weil ihr Platz früher reserviert war. Ihre Nerven wurden allmählich schwächer. Sie war gereizt. Stella hatte den Eindruck, dass alles was sie tat, völliger Unsinn oder jedenfalls ein Fehler war. Außerdem ihre Beziehung zu Nikita sie nicht zur Ruhe kommen. Den Mann, mit dem sie letzte Monate verbracht hatte, konnte sie nicht vergessen. Er war ein gebürtiger Moskauer, höflich, angenehm, still und ruhig. Er beeilte sich nie wirklich, erledigte aber trotzdem alles rechtzeitig. Zu Stella war er zärtlich, umarmte sie, streichelte und küsste ihre Hände. Das Mädchen dachte, sie hätte ihr Glück und ihre Ruhe gefunden. Er war groß, sogar sehr groß, hatte dunkles Haar und braune Augen. Sie hatte sich ihr Glück immer mit solchen braunen Augen vorgestellt. Einen leidenschaftlichen Liebhaber konnte man ihn kaum nennen, aber er war von zärtlicher Ausdauer. In seinen Armen bekam sie am ganzen Körper Gänsehaut vor Lust. Genau so nannte sie ihn in Gedanken: „meine Gänsehautliebe“.
Die Emotionen in dieser Beziehung konnte man natürlich nicht mit elektrischen Ladungen vergleichen, aber Nikita war doch keine schlechte Wahl.
Stella hatte ihn nicht ernst genommen. Sie liebte bewegliche Menschen und Sport. In ihrer Schulzeit hatte sie an verschiedenen Wettbewerben teilgenommen. und meistens gewonnen. Dafür gab sie hundert Prozent, koste es, was es wolle. Sie hatte sich mit kräftigen, sportlichen Jungen getroffen, die einen starken Charakter hatten und Wort halten konnten. Stella sagte, sie möge echte Männer, keine Schwuchteln. Nikita sah dagegen eher wie ein warmer Bruder als wie ein harter Mann aus. Ein Weichling mit dünnen Ärmchen. Beim Sex mit ihm spielte Stella immer die erste Geige.
Stella verabschiedete sich von ihrem guten Nikita, der mit dem gekränkten Gesicht eines unglücklichen, verlorenen Kindes dastand. Sein Aussehen weckte Stellas mütterliche Gefühle. Sie brach in Tränen aus. Im Gegensatz zu ihm wusste sie sehr gut, dass es ihr letztes Treffen war.
Natalja saß wütend zu Hause und wartete auf Stella.
Sie war sauer auf ihre Freundin, weil diese ins Land der Zwerge reiste und sie im Stich ließ. Dafür fand sie einfach keine Erklärung. Vieles veränderte sich in der Beziehung der Mädchen während dieser letzten Zeit. Natalja hatte sich an ihre „Schlange“ gewöhnt, und vielleicht liebte sie sie sogar ein wenig. Oder war es nur die gewöhnliche Angst, allein zurückzubleiben, die die arme Blonde quälte? Als Stella in die Wohnung kam, sah sie das besorgte Gesicht der Weggefährtin und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. In dieser Minute tat es ihr leid, dass sie diese überstürzte, unbesonnene, auf Emotionen und Ressentiments beruhende Entscheidung getroffen hatte. Der verdammte Job als Notarin und der gemeinsame Arbeitsalltag hatten sie beide restlos aufgefressen. Skandale und andere Probleme brachten sie dazu, den Schritt zu gehen, den sie vor drei Monaten gewagt hatten.
Aber heute! Heute ist alles anders! Ganz anders! Ich bin selber schuld! Mein verdammter Charakter! Ich konnte nicht nachgeben! Ich dachte, so wäre es besser! Sie hat mich verrückt gemacht mit ihren Zicken! Aber warum ist das nicht mehr wichtig? Alles ist vor meinen Augen anders geworden! In kurzer Zeit! Ich will in dieses verfluchte Genf! Scheiß auf das Tanzen! Das kann ich lernen! Aber nein, jetzt ist nichts mehr daran zu ändern…
„Ich komme! Du wirst sehen!“
„Ich warte auf dich! Jetzt schon! Du bist noch gar nicht weg, du Schlange! Aber ich warte schon auf dich!“, rief das Mädchen durch ihre Tränen.