In den Jahren 2005–2006, als die jüdische Einwanderung nach Deutschland genau sein 15-jähriges Jubiläum zu feiern schien, gab es eine Änderung in den Trends und die Zahlen gingen langsam, aber sich beschleunigend, nach unten. In der ersten Linie war das mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes verbunden. Ein Bestandteil dieses Gesetzes betraf die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion: Statt «Kontingentflüchtlinge», wurden sie nun «jüdische Einwanderer» genannt. Aber die Veränderung betraf nicht nur die Bezeichnung. Der neue Status stoppte fast die ganze Einwanderung, brachte sie zum Minimalwert. 2015 sank die Gesamtmitgliederzahl der jüdischen Gemeinden in Deutschland unter 100.000 und belief sich auf 99.700 Personen, was dem Stand von Mitte 2003 sich gleicht.

1990 zählte man in Freiburg 201 Personen als Mitglieder. Den Höhepunkt erreichte die Mitgliederzahl in Freiburg wie auch in ganz Deutschland 2005: Damals hatte die Freiburger Gemeinde 738 Mitglieder. Schon 2015 sank wieder die Zahl auf 592 Menschen, was ein Viertel weniger ist als 2005.

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2015–2016 (je nachdem, wie man den Beginn definiert) sind es 25 Jahre des offiziellen Beginns der jüdischen Migration nach Deutschland aus der UdSSR und den postsowjetischen Ländern, vor allem aus der Ukraine und Russland. Die Geschichte dieser Migrationswelle, die für die UdSSR die letzte war, ist noch nicht geschrieben.

Die Dokumentenbasis einer solchen Studie muss facettenreich und umfassend sein. Neben diversen amtlichen und nicht amtlichen Dokumenten und Statistiken, neben soziologischen Ausführungen und Medienveröffentlichungen müssen auch sogenannte Ego-Dokumente – Tagebücher, Erinnerungen und Interviews derjenigen, um die es sich eigentlich handelt, d. h. jüdischer Auswanderer – einen würdigen Platz darin einnehmen. Die Aktualität der Frage wird noch dadurch verstärkt, dass die meisten Migranten der ersten Generation schon im hohen Alter sind.

Zugleich sind das Menschen mit garantiert spannenden Schicksalen, die unmittelbaren Nachkommen, Geschichtswissenschaftlern und einfachen Lesern erzählt werden wollen. Da Einwanderer exzellent ausgebildet sind und über eine gewisse Menge an Freizeit verfügen, kann man durchaus damit rechnen, dass sie bereit wären, die Peripetien ihres eigenen Lebens bzw. des Lebens ihrer Väter und Großväter zu beschreiben.

Und gerade damit rechnete ich, als ich vorschlug, ein entsprechendes Pilotprojekt in der Israelitischen Gemeinde Freiburg zu starten. Der Gemeindevorstand zeigte Verständnis und erklärte sich bereit, diese Idee zu unterstützen. Im Endergebnis erhielten die Gemeindemitglieder zusammen mit einem der Rundbriefe folgenden Text (hier gekürzt):

«OHNE MICH IST DAS VOLK NICHT VOLLSTÄNDIG!»
KOLLEKTIVES JÜDISCHES GEDÄCHTNISARCHIV

«Ohne mich ist das Volk nicht vollständig!»

(A. Platonow)


«Jeder bzw. jede von Ihnen lebt in Deutschland sein bzw. ihr nicht gerade einfaches, jedoch einzigartiges, ereignis – und erlebnisreiches Leben, wo auch immer es begonnen haben mag… Sowohl hier und heute als auch dort und damals war Ihr Leben und das Leben ihrer Eltern und anderer Vorfahren voller Ereignisse, die sowohl vom Standpunkt Ihres persönlichen Lebenslaufes als auch vom geschichtlichen Standpunkt aus von Interesse sind. Ihre individuellen Schicksale fügen sich zur allgemeinen Geschichte – der Geschichte des Judentums und der Menschheit – zusammen.

Mit diesem Brief leitet die Gemeinde Freiburg ein Projekt zum Aufbau unseres kollektiven historischen Gedächtnisarchivs ein. Wir rufen Sie auf, etwas Zeit und Seelenkraft zu finden, um sich gedanklich in die Vergangenheit zu begeben, Hefte aufzuschlagen oder PCs einzuschalten und Ihre Familienchroniken zu erstellen. Sollten Sie dabei auf technische Schwierigkeiten stoßen, werden wir alles Mögliche tun, um Sie bei ihrer Behebung zu unterstützen.