Aber als er näher darauf zuging, sah er, dass es keine neue Rolle war. Es war ein Geflecht von altem Draht, das in alle Richtungen gewickelt war.
Das ergab doch keinen Sinn.
Als er das Bündel erreicht hatte und es anstarrte, merkte er, dass sich in der Mitte etwas befand.
Er lehnte sich in Richtung Knäuel, betrachtete es aus der Nähe und fühlte den plötzlichen, kalten Hauch des Entsetzens.
»Was zur Hölle!» schrie er gellend und machte einen Satz zurück.
Aber vielleicht war das nur seine Einbildung. Er zwang sich, nochmals hinzuschauen.
Da war es – das Gesicht einer Frau, blass, schmerzverzerrt und mit Wundmalen übersät.
Er griff nach dem Draht, um ihn von ihr runterzuziehen, aber das ließ er schnell sein.
Das macht gar keinen Sinn, stellte er fest. Sie ist tot.
Er stolperte zum nächsten Zaunpfahl hinüber, lehnte sich darauf und musste kräftig würgen.
Reiß dich zusammen, ermahnte er sich selbst.
Er musste die Polizei anrufen – und zwar gleich.
Er taumelte rückwärts und fing dann an, in Richtung Haus zu laufen.
Kapitel fünf
Special Agent Jake Crivaro richtete sich kerzengerade auf, als das Telefon in seinem Büro klingelte.
Es war schon wieder viel zu ruhig in Quantico gewesen – seit seiner gestrigen Rückkehr.
Nun sagte ihm sein Instinkt sofort …
Ein neuer Fall.
Das war ja klar. Sobald er den Hörer abgenommen hatte, hörte er die sonore Stimme von Erik Lehl, dem befehlshabenden Special Agent …
«Crivaro, ich brauche Sie sofort hier in meinem Büro.«
Jake legte auf und griff nach seiner Notfalltasche, die er immer bereithielt. Befehlshaber Lehl war gerade noch lakonischer gewesen als für gewöhnlich, was sicher bedeutete, dass es dringend etwas zu tun gab. Crivaro war sich sicher, dass er bald irgendwo hinreisen würde – vielleicht sogar schon in der nächsten Stunde.
Er fühlte sein Herz ein klein wenig schneller schlagen, als er den Flur entlangeilte. Es war ein gutes Gefühl. Nach seinem 10-wöchigen Arbeitspensum, wo er als Mentor im FBI-Honors-Praktikantenprogramm beschäftigt gewesen war, war dies nun eine willkommene Rückkehr zur Normalität.
Während der ersten paar Tage des Sommerprogramms musste er sich mit einem auswärtigen Mordfall befassen – der berüchtigte “Clown-Killer“ hatte zugeschlagen. Danach hatte er sich der profaneren Welt als Mentor gewidmet. Nur eine aus der Gruppe der Praktikanten – eine talentierte junge Frau namens Riley Sweeney, die einen zur Verzweiflung bringen konnte – hatte eine auffallende Brillanz gezeigt, ihm bei dem Fall zu helfen.
Dennoch – für seinen Geschmack war das Programm zu langsam verstrichen. Er war es nicht gewohnt, für eine dermaßen lange Zeit nicht im Feld zu arbeiten.
Als Jake Lehls Büro betrat, erhob sich der hoch aufgeschossene Mann von seinem Stuhl, um Crivaro zu grüßen. Erik Lehl war so groß, dass er in fast keinen der Räume passte, in dem er sich aufhielt. Andere Agenten sagten, dass es aussähe, als würde er auf Stelzen gehen. Für Jake sah es aus, als ob er aus Stelzen geschnitzt worden wäre – eine umständlich angeordnete Mischung aus verschiedenen Hölzern, die in ihren Bewegungen zu keinem Zeitpunkt perfekt koordiniert erschienen. Aber der Mann war ein Crack von einem Agenten gewesen und hatte seine Position in der Verhaltensanalyse-Einheit des FBI verdient.
»Richten Sie sich hier nicht gemütlich ein, Crivaro,« sagte Lehl. »Sie brechen gleich auf.«
Gehorsam blieb Jake stehen.
Lehl betrachtete den braunen Manila-Umschlag, den er in der Hand hielt und stieß einen grimmigen Seufzer aus. Jake hatte schon seit geraumer Zeit beobachtet, dass Lehl die Tendenz hatte, jeden einzelnen Fall äußerst ernst zu nehmen – man könnte sogar sagen persönlich. So als ob er sich bei jedweder Art von monströser Kriminalität persönlich beleidigt fühlte.